Dietmar Bittrich

Müssen wir da auch noch hin?

Kurze Geschichten vom Reisen

Reisen ist schön – vor allem wenn man wieder zu Hause ist

Es gibt glückliche Momente auf Reisen. Zum Beispiel bei der Planung. Und natürlich im Rückblick, wenn alles überstanden ist. Auf der Reise selbst hingegen erleben wir erstaunlich viele Störungen, Ärgernisse, Unzulänglichkeiten – und lauter Leute, denen wir gern weniger nahe wären. Dietmar Bittrich erzählt davon kenntnisreich, mit viel Witz und hohem Wiedererkennungswert.

dtv,  208 Seiten, ISBN 978-342321788X

Erscheinungstermin: 22.03.2019

Taschenbuch 9,95 Euro

E-Book 8,99 Euro

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Leseprobe

Regional und analog

Um unserer Freunde willen scheuen wir keinen Aufwand. Wir begeben uns auf Safari ins Okavango-Delta oder auf Kreuzfahrt zu den Jungferninseln. Wir fliegen nach Curacao und nach Bora Bora („wenn es ein Paradies gibt, dann haben wir es jetzt gesehen!“), verkosten den Sauvignon Blanc auf Neuseelands Südinsel („unvergleichlich, uneinholbar, unübertrefflich, aber man muss ihn dort trinken!“) und frühstücken im Cook Island Royal („wer das nicht getan hat, hat nicht gelebt“).

Erbleichen die Freunde bei unseren Schilderungen? Hoffentlich. Ringen sie sich zu kraftloser Mitfreude durch? Dann hat sich der Urlaub gelohnt. So macht Reisen Spaß. Allerdings wird dieser Spaß auf Dauer teuer. Und wenn unsere Zuhörer sich aufraffen und mit Antigua und Mauritius kontern, schwindet allmählich der Sinn. Was dann? Dann ist eine Wende fällig. Eine radikale. Es ist soweit. Adieu, Vatulele, Rarotonga, Palau!

Unsere Freunde bekommen unseren Schwenk nicht mit. Der Schock trifft sie, während sie Pullover für Patagonien einpacken. Eine Postkarte reicht, um den Boden unter ihnen beben zu lassen: „Schöne Grüße aus dem Odenwald“. Sie trauen ihren Augen nicht. Sie lesen dreimal. Sie vergleichen unsere Unterschrift mit vergangenen Schriftproben. Sie recherchieren auf Google Maps nach. Tatsächlich, ja, kein Zweifel. Wir sind im Odenwald.

Unsere abenteuerlich spießige Potpourrikarte zeigt fünf Ansichten: das Erbacher Schloss, ein schattiges Waldstück, das Rathaus von Michelstadt, einen schrankhohen Wasserfall und ein sturzbiederes Hotel, in dessen obere Fensterreihe wir ein Kreuzchen gemalt haben. Genau, da wohnen wir. Und die Postkarte ist total analog!

Das ist dermaßen krass, dass unseren Freunden die Koffer entgleiten. Zu spät. Sie haben gebucht. Sie müssen jetzt sechzehn Stunden fliegen.

Tja, sorry, Trend verpasst! Denn wenn jemand einen Trend setzt, dann sind wir es – Sie und ich. Unser neuer Trend heißt: Erholung. Ein Wort wie _Fernerholung_ gibt es bekanntlich nicht, aus begreiflichen Gründen. Nur Naherholung kann Erholung sein. Für das Gefühl von Glück und Freiheit reicht es, den Arbeitsplatz zu verlassen, den Schreibtisch, die Nachbarschaft, das Viertel. Das Ziel ist zweitrangig. Es könnte sogar das gegenüberliegende Stadtende sein.

Bereits die Abreise ist erfrischend – zumal sie nicht mit Passverlängerung, Impfpflicht und Vorsichtsmaßnahmen verbunden ist. Für das Siebengebirge benötigen wir keine Auslandskrankenversicherung. Für das Hohenloher Land keine Impfungen gegen Hepatitis und Gelbfieber. Wir brauchen ins Teufelsmoor kein Malariamittel mitzunehmen, müssen im Saaletal das Wasser nicht meiden und haben nirgends Furcht vor Kolibakterien im Salat. Diese Sorgen überlassen wir unseren fernreisenden Freunden.

Während die besorgt die Liste der _Do’s and Don’ts_ studieren, lehnen wir uns zurück. Ihnen hat man im Reisebüro nahegelegt, im Urlaubsland ungeschältes Obst und Milchprodukte abzulehnen und auch bei größte Hitze keine Eiswürfel ins Getränk zu nehmen, Caipirinha also lieber warm zu trinken. Na, dann Prost. Wir erfrischen uns an heimischem Riesling an der Reußischen Fürstenstraße oder trinken direkt aus dem grünen Rauschen der Partnachklamm.

Wir schicken eine einfältige Trachtenpostkarte aus der Oberpfalz, etwas später den kreuzbraven Fachwerkblick „Schönes Weserbergland“ oder die Heimatfilm-Variante „Zauberhafter Hotzenwald“. Falls unsere Freunde eine Nacht lang Richtung Südosten fliegen, um sich besonders exklusiv am Strand zu räkeln, haben wir sie im Abschiedstelefonat pflichtgemäß vor der fadenscheinigen Ozonschicht gewarnt. „Und dann gibt es ja diese kleinen Bilharziose-Würmer!“ Sie haben nie davon gehört. „Doch! Die schlängeln sich im Wasser zu den Badenden, bohren sich durch die Haut und pflanzen sich dann im Körper fort. Wir fahren übrigens nach Büsum.“

Da gibt es nur Wattwürmer. Es darf auch die Ostsee sein, wo unsere Pension „Hilde“, „Marianne“ oder „Seestern“ heißt. Oder die Müritz. Sogar das Steinhuder Meer kommt in Betracht. Während unsere Freunde die Erdbebenfluchtpläne ihres Hotels auswendig lernen, besuchen wir in wohliger Wehmut all die Orte, die wir aus den Erzählungen unserer Großeltern und Patentanten kennen.

Als Wegweiser besitzen wir ein paar ihrer zittrig beschrifteten Farbpostkarten, aus dem Taubertal, von der Mosel und aus St. Märgen. Damals wurden Schwarzweißfotos per Schablone koloriert. Auf den alten Farbkarten trägt jedes Dach dasselbe Rot, jeder Baum dasselbe Grün, Himmel und Wasser leuchten im selben fehlbarbenen Blau. Mit etwas Glück ergatten wir in Undeloh noch die quietschviolette Variante: Schafherde im Heidekraut, mit der Aufschrift „Die Lüneburger Heide hat viele Gesichter“.

Unsere Freunde wissen nicht, ob sie über so viel Ereignislosigkeit lachen sollen. „Man will doch im Urlaub auch was erleben!“, behaupten sie. Ach, wirklich? Und was? Erstens wissen wir, dass sie hauptsächlich Anfälle von Hitzekoller und Schlaflosigkeit erlebt haben. Zweitens haben wir eine tiefsinnige Entgegnung parat: „Das größte Erlebnis ist die Stille.“ Unsere Freunde ziehen die Stirn kraus. „Hat der Dalai Lama gesagt“, fügen wir lässig hinzu.

Und es ist ja tatsächlich so. Erholung entsteht nicht durch eine rasche Folge von Events oder durch ein kulturelles Besichtigungsprogramm. Dergleichen Highlights haben lediglich einen Wert, weil sie vom Grundrauschen der Unzufriedenheit ablenken. Aber das tun sie nur für einen kurzen Moment. Die Wirkung verpufft gleich nach der Heimkehr, lediglich Bilder bleiben. Langfristig erholsam ist eine Reise allein dann, wenn sie uns – wie der Renaissance-Reisende Montaigne beobachtete – „den Frieden erleben lässt, der ohnehin unsere innerste Natur ist“.

Na, bitte. Solch grundlegenden Frieden erleben wir am einfachsten in den heimatlichen Postkartenlandschaften. Wo sie sind, erfahren wir aus den Fotoalben unserer Ahnen oder aus antiquarischen Reisebüchern und übrigens aus fremdsprachigen Führern. Hochinteressant, was der französische Guide Voir Allemagne empfiehlt oder was Earl Steinbickers 60 Daytrips Germany anpreist. Bei der Lektüre fällt auf, dass uns bei aller Fernreiserei das eigene Land unbekannt geblieben ist.

Unsere Freunde mussten derweil in Taipeh auf dem Flughafen übernachten? Wurden in Phuket von Diarrhöe gebeutelt? In Teotihuacán beklaut? Befinden sie sich bis auf weiteres in Quarantäne im Tropen-Institut? Na, dann bekommen sie eine tröstliche Postkarte von uns: „So erholt man sich im Sauerland.“