Dietmar Bittrich (Hrsg.)

Was macht der Mann da unterm Baum?

Immer wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

Neue, lustige Geschichten über Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft: Sie sind wieder da. Und haben ihre Neurosen mitgebracht. Die Schwester ist mit Tinder-Date angereist und knutscht schon nach dem Aperitif. Der studierte Onkel terrorisiert uns mit Weihnachtsklassikern am Klavier. Und mit der CO2-Bilanz der Nordmanntanne haben wir bei der Öko-Tante mit den Dreadlocks sowieso verloren. Da hilft nur noch Kartoffelsalat und viel Punsch. Und schon freuen sich alle über die liebevoll verschenkten eBay-Schnäppchen. Weihnachten – wie immer ein Fest!

Rowohlt Taschenbuch, 288 Seiten, ISBN 978-3499001024

Erscheinungstermin: 15.10.2019

Taschenbuch 11,00 Euro

E-Book 9,99 Euro

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Leseprobe

Was macht der Mann da?

Mit den Jahren wurde es immer schwieriger, unsere Eltern zu beschenken. Sie behaupteten, sie seien wunschlos glücklich und benötigten nichts. Trotzdem erwarteten sie etwas. Dem Trend des jeweiligen Jahres folgend hatten wir sie zuerst mit einem Thermomix versorgt, dann mit einer Smoothiemaschine, anschließend mit einem Rezeptbuch für Bowls plus handpolierten Kokosnussschalen, immer in der Zuversicht, dass wir alles bald erben würden. Zuletzt hatten wir ihr Landhäuschen mit Smart Home Geräten ausgestattet, die nicht sie, sondern wir bald zu bedienen hofften. «Also, ich kann damit nicht umgehen», brummte mein Vater. «Und ich will es auch gar nicht.» Meine Mutter ergänzte: «Etwas ganz Kleines von euch, aber mit Liebe, würde genügen.» 

Mit Liebe – wie mühsam. Mein elf Jahre jüngerer Bruder, der Nachkömmling, hatte als erster einen Idee. Zum folgenden Weihnachtsfest schenkte er den Eltern, dass er sich das Rauchen abgewöhnt hatte. Das war ihm im Sommer gelungen, wenn auch nicht vollständig. Er war zum Dampfer mutiert, probierte sich durch ein schillerndes Sortiment von Liquides und hüllte das Weihnachtszimmer in Wolken der Sorte Weihrauch­Olibanum. «Dass dir das schmeckt», wunderte sich mein Vater, der seinen Hang zum echten Tabak mit einen Herzschrittmacher plus drei Bypässen bezahlt hatte. «Riecht nach Krippenspiel», fand meine Mutter.

Mir half der Zufall. Auf der Gebisswiese fand ich im September einen Unterkiefer, der die Sammlung meines Vaters aufs glücklichste ergänzte. Ab Frühjahr stiegen vom kleinen Flughafen im Landkreis meiner Eltern Propellermaschinen mit Tandem­Skydivern auf. An windstillen Tagen sah man sie über den Himmel segeln. Nicht weit entfernt landeten sie auf einer brachliegenden Wiese. Einige ältere Teilnehmer hatten dann nicht mehr alles bei sich, besonders wenn sie beim Absprung geschrieen und gelacht hatten. Am häufigsten waren Teilprothesen und Klammern auf einer nahen Wiese zu finden. Als ich im September den Hund ausführte, tauchte er mit einem herrlichen Unterkiefer aus dem Gebüsch auf. Meine Eltern waren glücklich. Sie besaßen jetzt genau zwölf Exemplare und waren damit die Könige im Dorf. 

Noch mehr aber freuten sie sich über die Liebesgabe meiner Schwester. Sie hatte eine Liste erstellt, die meinem Vater wieder Hoffnung einflößte und meiner Mutter seelische Erleichterung verschaffte. Im Oktober hatte das Hamburger Abendblatt die «Top Ten der wichtigsten Intellektuellen» der Stadt veröffentlicht, und zu seiner Bestürzung hatte mein Vater seinen Namen nicht auf dieser Liste gefunden. Als Sozialphilosoph hatte er an der Universität einige akademische Lorbeeren verdient. 

Doch das lag nun schon geraume Zeit zurück. Aus seiner Enttäuschung wurde anhaltende Trauer. Zu Weihnachten offenbarte ihm dann meine Schwester: «Das in der Zeitung war die Shortlist! Ich habe nach der Longlist recherchiert, war gar nicht einfach, denn die ist eigentlich unter Verschluss. Aber es ist mir gelungen. Bitte sehr!» Sie legte «den Ausdruck» auf den Tisch. Den Name meines Vaters hatte sie auf Platz 13 ihrer selbstersonnenen Aufstellung gesetzt. Platz 11 wäre zu durchschaubar gewesen. 

Mein Vater lächelte glücklich. Wir fotografierten ihn durch den dichten Weihrauchdampf, der das Weihnachtszimmer vernebelte. «Das war wirklich schön und erfüllend», seufzte meine Mutter, als wir uns verabschiedeten. «So könnt ihr gern weitermachen im nächsten Jahr!» 

Was für eine Bürde! Wieder mussten wir uns etwas Neues einfallen lassen, nicht unbedingt eine Steigerung, aber etwas Gleichwertiges. Im Juli fand eine Online-Auktion mit den verbliebenen Vermögenswerten des bankrotten Boris Becker statt, den meine Eltern in seiner Jugend sehr verehrt hatten. Ich versuchte, mitzubieten und wenigstens eine zerbeulte Goldene Kamera oder ein Paar ausgetretener Tennisschuhe zu ergattern. Doch die Gebote überstiegen rasch unser Limit. Eine preisgünstige Alternative bot sich an, selbstgemacht: Besen und Kehrichtschaufel, gebraucht, mit imitierter Hotelaufschrift. «Zeugen der Liebe», wollte ich das Bündel nennen. 

Mein Bruder schüttelte den Kopf. Meine Schwester sagte: «So etwas meint Mama nicht, wenn sie von Liebe spricht.» Was sie selbst erarbeitet hatte, erschien meinem Bruder und mir nun auch nicht so zartfühlend. Es war ein Projekt, an dem sie schon lange forschte und das sie im August vollendet hatte: ein Fotoalbum mit den Kuckuckskindern unserer Großfamilie. Schon die schiere Anzahl ließ uns staunen. Das Album war ein schillerndes Zeugnis der erotischen Umtriebigkeit unserer Mütter und Tanten und verheirateten Cousinen. Das bedeutendste Foto war zweifellos das meines Bruders. Er wusste davon, wir wussten davon, und natürlich wusste meine Mutter, dass er die Frucht ihrer Affäre mit einem bisexuellen Balletttänzer war. Nur mein Vater wusste es nicht. Zur fraglichen Zeit hatte er Tag und Nacht an seiner großen, von niemandem zur Kenntnis genommenen Monographie über einen Sozialökonomen gesessen.

«Die Idee ist zauberhaft», lobte mein Bruder. «Aber bitte erst nach Papas Abberufung.» «Ist vielleicht nicht mehr lang hin», tröstete ich meine Schwester, die viel Zeit und Spürsinn aufgewandt hatte. «Ja, dann weiß ich auch nicht», sagte sie patzig. «Aber mir ist etwas eingefallen», sagte mein Bruder und dampfte eine extra große Wolke ins Zimmer. «Über Enrique könnten wir was wirklich Originelles auf die Beine stellen. Aber es ist ein wenig riskant.» Enrique war der Freund meines Bruders, den er während seiner Ausbildung zum Choreographen kennengelernt hatte, ein hübscher galizischer Tänzer mit markanten Zügen und funkelndem Charme. Unseren Eltern hatte er ihn noch nicht vorgestellt.

«Enrique kennt einen Tiraboleiro», erklärte mein Bruder. «Einen was?» «Und er ist sogar mit ihm verwandt!» «Mit wem?» «Mit dem Tiraboleiro Mayor!» Mein Bruder rief uns die Pilgerreise unserer Eltern ins Gedächtnis – ein bewundernswertes Unternehmen, an das wir drei uns aber eher schmerzlich erinnerten. Im vergangenen Jahr waren die beiden, ohne uns um Rat zu fragen, nach Santiago de Compostela aufgebrochen. Anschließend hatte mein Vater die Gemälde, die er über Jahrzehnte gesammelt hatte und für die bereits Platz an unseren Wänden reserviert war, zur Auktion gegeben und durch gerahmte Fotografien seiner Pilgerreise ersetzt.

«Santiago ist es», sagte mein Bruder beschwörend. «Enrique hilft uns! Du filmst!», wies er mich an. «Du trittst noch mal als Feme auf», diktierte er meiner Schwester.

«Auf keinen Fall», antwortete sie.

«Und ich», verkündete er, «besteige das Raumschiff!»

Dann weihte er uns in den Plan ein, dem Enrique bereits zugestimmt hatte. Im September überwanden wir unsere Flugscham und landeten nach einem madrilenischen Zwischenstopp auf dem kleinen Airport von Santiago. Das Gebot, die letzten hundert Kilometer zu Fuß oder die letzten zweihundert Kilometern mit dem Rad zurückzulegen, galt für uns nicht. Wir benötigten keinen Pilgerpass. Wir wollten unseren Eltern ein Geschenk machen.

 

«Der Aufwand ist nicht unerheblich», gab mein Bruder zu, als wir das Quartier an der Kathedrale bezogen. «Aber denkt auch an den Eventcharakter und an die Bilder!» Die waren ihm wichtig. Als geschmeidiger Kletterer hatte er seinen Instagram­Account schon mit dramatischen Selfies versorgt – vom Huashan Trail, von der Sea Cliff Bridge, hoch vom Eiffelturm außerhalb der Öffnungszeiten und vom Dach von Notre Dame, wo er allerdings geraucht hatte. 

Das Dampfen jetzt war weniger gefährlich. Aber sein Vorhaben ging in eine ähnliche Richtung. Meine Schwester hatte sich überreden lassen, für dieses eine, aber wirklich allerletzte Mal das weltanschauliche Hobby ihrer wilden Jahre wieder aufzugreifen. Sie hatte sie das Jesuskind aus der Krippe im Freiburger Münster geklaubt, den Kardinal Marx mit Slips beworfen und war mit Freundinnen während der Weihnachtsmesse auf den Altar des Kölner Doms gesprungen – alles nackt oder halbnackt, bezahlt meist mit einer anschließenden Erkältung sowie einem gehörigen Bußgeld. Nach der Geburt der Zwillinge hatte sie das Hobby ad acta gelegt. Doch jetzt war ihre Kunst noch einmal gefragt, wenn auch nicht als Hauptereignis, sondern zur Ablenkung der frommen Aufmerksamkeit. 

Wichtigstes Puzzlestück in unserem raffinierten Plan war jedoch Enriques Onkel, der Tiraboleiro Mayor. 

[…]

Es war unser Glück, dass dieser verständige Mann offen war für aktiven Klimaschutz. Wir verbrachten eine schlaflose Nacht, besonders mein Bruder, im Palais des Onkels. Aber in dem Moment, als am Sonntag in der mit Pilgern überfüllten Kathedrale das Hochamt begann, als die Orgel einsetzte und die Priester einzogen, fiel alle Nervosität von uns ab. Wir fühlten uns geborgen und behütet. Wir waren nun in Gottes Hand. 

Mein Bruder, in einem hautengen Kostüm von der Farbe galizischen Sandsteins, verbarg sich hinter einer Säule am Chorraum. Meine Schwester wartete wie eine segensbegierige Gläubige in der Nähe des Hochaltars. Ich hatte mich mit einsatzbereiter Kamera gegenüber postiert. Das Hochamt schleppte sich hin. Dann war es so weit, ich startete die Kamera: Wir sahen die acht Tiraboleiros, die erhabenen Diener, zum Botafumeiro schreiten, zum weltberühmten Weihrauchfass. Sie ergriffen die Seile, um es zum Schaukeln, zum Schwingen, zum Fliegen zu bringen. Ihr Anleiter, Enriques Onkel, der Tiraboleiro Mayor, nickte kaum merklich. 

Das war das Signal. Meine Schwester warf ihren schwarzen Umhang ab, unter dem sie strahlend nackt war. Ungehindert von den verdutzten Umstehenden sprang sie die Stufen hinauf und erklomm behände den Hochaltar. Panische Laute des Entsetzens erhoben sich, gellende Schreie des Protestes, aber auch Rufe der Bewunderung. Ein apokalyptischer Lärm erfüllte die Kirche. Sieben der acht Tiraboleiros starrten fassungslos auf das sündhafte Spektakel. Der achte, unser Verbündeter, lüftete seelenruhig den bereits angehobenen Deckel des Botafumeiro, sodass mein Bruder, der sich durch die entgeisterten Pilger geschlängelte hatte, blitzschnell hineinschlüpfen konnte. 

Das Fass, mit hundertsechzig Zentimetern nur ein wenig kleiner als er selbst, nahm ihn auf und schwankte kurz aufgrund des Gewichts. Die Tiraboleiros nahmen nichts davon wahr. Sprachlos starrten sie nach vorn, wo jetzt zwei beherzte Priester den Fuß meiner Schwester packten, um sie vom Altar zu zerren. Meine Schwester beschwichtigte sie: Sie komme freiwillig herunter. Ihr war nicht entgangen, dass meinem Bruder der Streich gelungen war. Zwei Kirchendiener eilten mit Decken herbei, hüllten sie ein und geleiteten die friedlich Lächelnde zum Seitenausgang, um sie der Guardia Civil zu übergeben. 

Enriques Onkel tat nun, was ihm aufgegeben war als verständigem Anführer der Tiraboleiros. Er sorgte dafür, dass in der Kathedrale wieder Ruhe einkehrte und die Messe reibungslos fortgesetzt werden konnte. Als hätte er den Weihrauchharz, auf dem mein Bruder hockte, eben in Glut versetzt, stiegen bereits aromatische Wolken aus dem Fass. Mein Bruder dampfte! 

Die Tiraboleiros begannen ihre Arbeit. Das Fass kam allmählich ins Schwingen – langsamer als gewöhnlich, doch die frommen Männer maßen die Schwierigkeit ihrem in die Knochen gefahrenen Schrecken zu. Feierlich erhob sich das schimmernde Fass in den hohen Raum. Mein Bruder stieß herrliche Wolken aus, schönere, so haben Zeugen später versichert, als jemals zuvor beim Flug des Botafumeiro. Als ich zoomte, glaubte ich seine Hand durch einen der schmalen Auslässe des Fasses winken zu sehen. Noch näher – ja, tatsächlich, er winkte mir, er winkte der Kamera zu! 

«Was macht der Mann da in dem Fass?», fragte ein kleiner Junge neben mir. 

Ich erschrak. Mein Zusammenzucken ist als markanter Wackler auf dem Video festgehalten, das bei YouTube längst über eine Million mal geklickt wurde. Auf dem Clip ist auch die Antwort der Eltern zu hören, die den vorwitzigen Kleinen belehren: «Das ist der heilige Geist, der den Weihrauch macht.» 

So war es, und so ist es. Nur dass eben kein Rauch aufstieg und auch nicht mehr aufsteigt, nie mehr, sondern ausschließlich klimafreundlicher Dampf der Sorte Olibanum. Wer heute ins Botafumeiro steigen und mitfliegen will, muss erstklassig dampfen können und darf, wie mein Bruder, eine Körperlänge von einssiebzig und ein Gewicht von sechsundfünfzig Kilo nicht überschreiten. Man sollte denken, dass treffe auf kaum jemanden zu, und doch ist die Warteliste für die kommenden zwei Jahre gefüllt. 

Der Nachfrage entsprechend sind die Spendenforderungen der Diözese Santiago immer kühner geworden. Mein Bruder hat seinen Flug durchs Kirchenschiff noch umsonst bekommen, wenn man von dem kleinen Dienst absieht, den er Enriques Onkel in dessen Palais erweisen durfte. Unser Vater schüttelte lediglich stumm den Kopf, als wir ihm zu Weihnachten das Video nebst den bewundernden Kommentaren auf YouTube und den Selfies vorführten, die mein Bruder oben aus dem Fass gemacht hatte. 

Nur meine Mutter sagte etwas dazu: «Etwas ganz Kleines von euch, aber mit Liebe, würde genügen.» Und da sind wir nun wieder.