Dietmar Bittrich
Glücklich trotz Kunst
Überleben in der Hochkultur
Sechs Erzählungen
Svato Verlag, gebunden
110 €
Mit neun farbigen Linolschnitten und mit 31 Vignetten
Im Buchdruck aus der Semplicitas 10 Punkt gesetzt
und an einer Andruckpresse gedruckt.
50 Seiten
Format 25,5 x 18 cm
Grafik, Typografie und Gestaltung
von Svato Zapletal
„Die Kultur hat auch Vorteile! Besonders bei plötzlichen Regengüssen sind wir für jedes Museum dankbar.“
Leseprobe
Sonntags im Museum
An grauen Sonntagvormittagen, wenn Verwandtenbesuch beschäftigt werden muss und uns nichts anderes einfällt, gehen wir ins Museum. Zwar kostet das Eintritt. Doch die Räume sind klimatisiert. Niemand spielt Klavier oder rezitiert selbstgemachte Verse. Beifall wird nicht erwartet. Wir dürfen selbst bestimmen, in welchem Zeitmaß wir die Werke abhaken, wann wir aufs Klo gehen und in welcher entlegenen Abteilung wir genüsslich unseren Müsliriegel verzehren.
Am besten schicken wir unsere Besucher gleich am Anfang unter einem kulturellen Vorwand in ferne Säle – „ihr wolltet doch den Vermeer sehen“ oder „jeder hat ja seinen eigenen Rhythmus“ – und begeben uns ins Café. Nicht sofort. Das geht technisch nicht. Ohne einen Blick auf Bilder zu werfen, kann man unmöglich ins Café gelangen; das hat die Museumsleitung so angelegt. Der Direktor weiß, dass niemand durch einen Rubenssaal eilt. Der Schritt wird dort automatisch schwer, die Beine fühlen sich adipös an. Dürfen wir überhaupt ins Café, können wir uns den Kuchen noch leisten, gewichtsmäßig? Oder sehen wir dann bald so aus wie auf den Bildern in diesem Saal? Bei den Impressionisten, die auch noch vor das Café gehängt sind, bleibt meine Frau manchmal freiwillig stehen. Sie stellt sich vor, dass sie Urlaub macht in diesen gemalten Landschaften. „Das wäre doch schön! Wo ist das eigentlich?“ – „Das sind jetzt diese Hochhausviertel rund um Paris”, behaupte ich. „Die Slums. Aber sicher, natürlich, wenn du willst, da können wir hinfahren.“
Sie zieht enttäuscht weiter. Es bleibt wirklich nur das Café, das Café Klimt oder Café Liebermann oder Café Paula Modersohn-Becker heißt, damit das alte Gebäck als authentisch durchgehen kann. Aber wo ist es eigentlich? Die Pfeile dahin führen wie auf einer labyrinthischen Schnitzeljagd in die Irre. In einem eingedunkelten Saal lockt eine lederbezogene Bank. In deren Mitte hat sich eine bebrillte Mittfünfzigerin platziert. Sie heuchelt Versunkenheit in ein biblisches Breitwandformat. Wird sie für uns beiseite rücken? Oder ist sie schon dabei, sich hinzulegen? Sie wirkt nicht mehr ansprechbar. Die museumseigene Geistesdämmerung hat Besitz von ihr ergriffen.
Auch wir selbst können uns dieses Phänomens kaum erwehren. Vom dritten Saal an legt sich eine bleierne Schwere auf Hirn und Glieder. Es liegt an der gleichförmigen Flucht der Säle, an den mit schweren Stoffen verhängten Fenstern, am knarrenden Zeitlupenschritt der Wärter. Es liegt an den gewichtigen Werken und den leblosen Skulpturen und den geputzten Vitrinen, die alle gewürdigt werden wollen und Aufmerksamkeit fordern und nichts zurückgeben. Und natürlich liegt es am bedrückten Schweigen der anderen Besucher.
Psst! Vorsicht! Da sind unsere Verwandten! Wie kommen die denn hierher in diesen cafénahen Saal? Wir haben sie doch in den Westflügel geschickt? Haben sie den etwa verfehlt? Sie haben sich doch nicht etwa schon sattgesehen an dem herrlichen Vermeer? Und sind sie danach an den großartigen holländischen Regenlandschaften achtlos vorübergeeilt? Was für Banausen! Und wir haben ihre Eintrittskarten bezahlt! Welche Vergeudung.
Eine Begegnung so früh müssen wir jetzt unbedingt vermeiden. An der Kasse haben sie noch beteuert, sie fühlten sich von den alten Werken inspiriert, von den neueren schöpferisch herausgefordert und von den Allerneuesten zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung gereizt. Diese Phrasen hätten sie sich sparen können. Jetzt, detektivisch verborgen hinterm Türrahmen, sehen wir die schale Wahrheit.
Unsere Verwandten gehören zu den Typen, die an der Kasse den durchgeistigten Blick aufsetzen und dann im Dreivierteltakt ihrer Bildungspflicht Genüge tun. Was wir da beobachten, ist typisch. Das erste Gemälde in jedem Raum betrachten sie eingehend, an den beiden folgenden gehen sie eiliger vorbei, beim vierten gibt’s wieder den etwas längeren Blick, dann wieder kurz, kurz, lang, und so fort im Dreivierteltakt des vorgeblichen Kunstgenusses.
Das schläfert sogar die Überwachungskameras ein. Aber wir bleiben jetzt dran. Kevin, unser geschiedener Cousin, hat eine neue Gefährtin, was nichts anderes heißt, dass weder ihr noch den Umstehenden sein fachkundiger Kommentar erspart bleibt. Wenn neben dem Bild ein Name wie Rembrandt zu lesen ist, tritt er einen Schritt zurück, nickt anerkennend und erläutert: „Das gefällt mir, doch, ja, diese ausdrucksvollen Gesichter, und dieses Licht, unglaublich subtile Lichtbehandlung, schau mal!“ Steht auf dem Schildchen hingegen Terborch oder sonst etwas Ruhmloses, äußer er: „Damit kann ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht so viel anfangen, du?“
Sie schüttelt ergeben den Kopf. Schade, dass wir ihn nicht in der Abteilung fürs überflüssige Neue ertappt haben. Dahin gehen wir eigentlich nur alle drei Jahre, um zu sehen, wofür unsere Steuergelder verschleudert werden. Die Werke kommentiere ich nicht mehr, seit ich mal kennerisch ein dekorativ positioniertes Rohr gelobt habe – „das könnte ein Kippenberger sein“ -, das kurz darauf von zwei Arbeitern weggetragen wurde, augenscheinlich zur Heizungsmontage. Das feinsinnige Lächeln meiner Begleiterin werde ich nie vergessen. Es war mein letztes Wagnis dieser Art. Kurz zuvor hatte ich noch den einsamen Hocker gelobt – „spiegelt beispielhaft die Vereinzelung in unserer Gesellschaft wider“ -, auf den sich anschließend der Wärter setzte. Inzwischen habe ich mich oft gefragt, ob sich der überhaupt hätte setzen dürfen, obgleich doch Besucher im Raum waren? Oder gehörte er zur Installation? Dann hatte ich doch Recht! Und die beiden Arbeiter waren womöglich Kunsträuber, die unter unseren Augen einen echten Kippenberger beiseite schafften? Zu spät.
Jetzt jedenfalls dürfen uns um keinen Preis erwischen lassen. Nur blockieren die Verwandten den Weg zum Café. Was sollen wir machen? Wir können uns ja jetzt nicht einfach Bilder ansehen. „Es gibt doch noch einen anderen Weg, hinten rum“, zischelt meine Frau. „Wir kommen durch den Notausgang ins Café!“ – „Ist der nicht alarmgesichert?“ – „Das riskieren wir!“
„Ach, da seid ihr ja!“, ruft mein Cousin begeistert. „Ich habe euch Unrecht getan. Ich habe eben noch zu Sarah hier gesagt: Die chillen bestimmt im Café!“
„Was denkst du denn von uns?“, empören wir uns.
„Kevin kennt sich super aus mit den ganzen Bildern und den Malern und so“, meint die unbedarfte Freundin in himmelschreiender Bewunderung.
„Ja, schließt euch doch einfach an!“, stimmt der Cousin großmütig zu und zieht uns gleich mit. „Gönnt euch das! Ich führe euch jetzt mal ein bisschen herum!“