Dietmar Bittrich
Gute Nacht – Mit deutscher Dichtung in den Tiefschlaf
Dietmar Bittrich hat Mark Twain beim Wort genommen und die einlullendsten Texte der größten deutschen Dichter gesammelt: einwiegende Reiseschilderungen, beschauliche Landschaften, verklärte Idyllen. Das Ziel: guter Schlaf. Wir lesen fünf Seiten und schlummern tief ein – garantiert und empirisch nachgewiesen!
Deutsche Dichter galten von jeher als Meister der beschaulichen Beschreibung. Von Goethe über Stifter, Storm und Keller bis zu Rilke und Hofmannsthal schufen die großen Autoren die friedvollsten Idyllen und behaglichsten Romanzen. Dietmar Bittrich hat sie gesammelt: die Texte zum sanften Weggleiten, die Dichtungen für den tiefen Schlaf, die Lektüre für eine gute Nacht. Schlafforscher wissen: Die letzten Gedanken vor dem Wegdämmern sind die wichtigsten. Dieses Buch garantiert erholsamen Schlaf und glückliches Erwachen. Höheres kann Literatur nicht leisten.
Hoffmann & Campe
gebunden
14,95 €
Leseprobe
Einschlafen und Durchschlafen mit deutscher Dichtung
Die wunderbare Wirkung der deutschen Literatur lernte ich bereits als Kind kennen. Damals verstand ich noch nicht, was Erwachsene meinten, wenn sie von Schlaflosigkeit redeten. Doch ich verstand, dass es etwas war, worunter meine Großmutter litt. Sie trank beruhigende Tees, machte abendliche Atemübungen auf der Terrasse, rührte weißes Pulver in ein Glas Wasser, aber nichts half.
Mein Großvater, in Mitleidenschaft gezogen, beschloss schließlich, ihr die wachen Nachtstunden zu verkürzen und zugleich ihre Bildung zu verbessern. Er begann, seiner Frau vorzulesen. Einer damaligen Mode folgend, wählte er Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“.
Hier nun geschah das Wunder: Meine Großmutter schlief ein. Mein Großvater reagierte zunächst unmutig, wie ein Dichter, dessen Publikum bei der Lesung zu schnarchen beginnt. Gekränkt wollte er meine Großmutter wecken. Doch in dem Augenblick, da er ihren Arm schütteln wollte, ging ihm auf, dass sich hier eine Art Spontanheilung vollzogen hatte. Verdutzt starrte er die friedliche Schläferin an, starrte das Buch an, klappte es leise zu, legte sich neben sie und lauschte ergriffen ihren friedlichen Atemzügen.
Ließ sich dieses Wunder womöglich wiederholen? Ja. Meine Großmutter konnte fortan auf alle Pülverchen und Tees verzichten. Es genügte, dass mein Großvater ihr etwas vorlas. Und als er ein paar Jahre später gestorben war, genügte es, dass sie selbst ein literarisches Werk aufschlug. Es hatte nicht an seiner Stimme gelegen, nicht an der Art seines Vortragens. Die magische Macht war von der Grundlage selbst ausgegangen: von der deutschen Literatur.
Vor allem die Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts erzielten eine narkotisierende Wirkung: der späte Goethe, Stifter, Keller, Raabe, Fontane, Storm und Löns. War Langeweile die Ursache? Ich glaube nicht. Die Wirkung ist vielmehr der behäbigen Erzählweise zu verdanken, den idyllischen Naturschilderungen und wohl auch dem Vertrauen auf einen tröstenden Sinn in diesen Werken.
In ihren letzten zwei Jahren reichte meiner Großmutter, bei völliger geistiger Klarheit, ein einziges Buch zum Einschlafen: Theodor Storms „Immensee“. Als sie starb, war sie mit dieser Novelle noch immer nicht ans Ende gelangt. Damals bedauerte ich das, heute ist der Grund mir klar: Niemand kann „Immensee“ zu Ende lesen. Bereits nach wenigen Sätzen ergreift den Leser bleierne Müdigkeit und versenkt ihn für viele Stunden in erholsame Ohnmacht.
Als ich heranwuchs und wache Nächte genoss, vergaß ich dieses Wunder nebenwirkungsfreier Heilung. Auf der Universität begegnete ich ihm wieder. Es geschah in Tübingen, als ich die Bibliothek des Germanistischen Seminars aufsuchte. Damals studierte ich Philosophie und Theologie und war unzufrieden.
Was ich an einem blendend hellen Nachmittag in der Bibliothek der Literaturwissenschaftler beobachten durfte, bewog mich zum sofortigen Wechsel des Studienfachs. Die Studenten schlummerten. Sie waren über ihren Büchern eingenickt. Sie schliefen mit einem Ausdruck von Seligkeit, den nur höchste Kunst auf ein Gesicht zu zaubern vermag.
Von Tisch zu Tisch schleichend, erinnerte ich mich an meine Großeltern. Ja! Es war ihre Lektüre, die den Zauber auch hier bewirkt hatte: Goethe, Heine, Raabe, Keyserling, Hofmannsthal, Rilke. Die Auswahl war edel und überzeugend. Ich begann ein neues, wundervolles Studium und machte einige Jahre später ganz und gar ausgeschlafen Examen.
Was ich von meinem Studium behalten habe, ist naturgemäß nur, was ich schon vorher wusste: Deutsche Literatur ist das wirksamste und zugleich das kultivierteste Mittel gegen Schlaflosigkeit. Deutsche Autoren garantieren Einschlafen und Durchschlafen auf höchstem Niveau.
„Niemand“, lehrte Mark Twain, „vermag dich so gut einzuschläfern wie ein deutscher Schriftsteller.“ Er meinte dieses Lob keineswegs nur ironisch. Von seinen deutschen Großeltern und in der Freimaurerloge hatte er genügend Deutsch erlernt, um für seine romantische Reise durch Deutschland gewappnet zu sein. In den schlechten Betten an Rhein und Necker vermochte ihm nur eines zu erholsamem Schlummer zu verhelfen: deutsche Literatur.
Übrigens las er zum Einschlafen nicht allein Goethe und Heine, sondern – bei besonders harten Matratzen – Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Auf Schillers Prosa bezieht sich auch sein berühmter Scherz: „Wenn der deutsche Schriftsteller in seinen Satz eintaucht, hat man ihn die längste Zeit gesehen, bis er am anderen Ende des Ozeans auftaucht, mit dem Verb im Maul.“ Falls der Leser noch Kraft hat, ihn auftauchen zu sehen. Meist ist er vorher weggesackt, wie Mark Twain.
Die anästhesierende Wirkung verdankt sich also nicht allein dem Inhalt, sondern auch der Sprachmelodie. Im Deutschen erlaubt die Satzkonstruktion herrlich verlangsamende Nebensätze, labyrinthische Schachtelungen, ausufernde Einschübe und endlose Parenthesen, weitschweifige Hinzufügungen nebst erklärenden Klammern, die vom Leser einerseits einen langen Atem erfordern und die andererseits seinen Atem tatsächlich verlangsamen, die also den Körper beruhigen und den Gedankenfluss sanft beschwichtigen. Wie war dieser Satz eben? Auch schon schön einschläfernd? Es gibt viel großartigere bei den deutschen Dichtern.
„Für die Nachtruhe empfehle ich Ihnen ein paar Seiten deutsche Literatur“, teilte Iwan Turgenjew, der russische Romancier, seinen Bewunderern mit. Seine eigenen Hervorbringungen empfand er als zu leidenschaftlich und aufregend; wir sind da mittlerweile anderer Ansicht. Jedenfalls pries er zum Einschlummern Berthold Auerbach, Paul Heyse und Gustav Freytag. Wenn er in seinem Alterssitz in Baden-Baden Gäste zum Aufbruch nötigen wollte, kündigte er an, ein Epos des Zeitgenossen Viktor von Scheffel vorlesen zu lassen: „Ekkehard“. Das war ein unbezwingbarer Absacker. Nach wenigen Seiten mussten die rasselnd schnarchenden Gäste von Dienern in die Kutschen geschleift werden.
Friedrich Nietzsche ließ sich von Hölderlin und Goethe in den Schlummer wiegen. „Wer braucht Baldrian, solange es deutsche Dichtung gibt?“, notierte er in glücklicher Schlaftrunkenheit. Mit diesem Satz erwies sich der Philosoph als früher Öko-Tester mit klarem Urteil. Baldrian ist hinsichtlich der Risiken und Nebenwirkungen einigermaßen harmlos. Deutsche Literatur ist gänzlich unbedenklich.
Natürlich ist Müdigkeit die erste Voraussetzung zum Einschlafen. Doch die hier versammelte Literatur sorgt dafür, dass das Überdrehen der Gedanken ein Ende hat und dass die vibrierenden Nerven zur Ruhe kommen. Nietzsche litt unter beidem. Sein liebstes Schlafkapitel aus seinem bevorzugten Schlummerbuch, den Gesprächen Eckermanns mit Goethe, habe ich auch in dieses Buch aufgenommen, unter behutsamer Anwendung von Alfred Kerrs berühmtem Wort: „Selbst Goethe wird durch Kürzen besser.“
Storms „Immensee“ hätte einen Abdruck in ganzer Länge verdient, ebenso Eckermanns „Gespräche“. Denn jeder Absatz in diesen Werken senkt den Leser tiefer in die Matratze.
Doch bereits Nietzsche benutzte eine zweibändige Ausgabe der Eckermann-Gespräche, und das aus gutem Grund: Nur dünne Bücher sind nebenwirkungsfrei. Ein Buch muss dem wegdösenden Leser aus den Händen gleiten können, ohne Schürfwunden in seinem Gesicht zu hinterlassen. Aus diesem Grund waren die teureren doppelbändigen Ausgaben von Stifters „Nachsommer“ und Fontanes „Wanderungen“ bereits zu Lebzeiten der Autoren wesentlich begehrter als die verletzungsträchtigen dicken Einbänder.
Welche Texte also schläfern ein? Nicht langweilige, sondern einlullende. Solche, die ihre Wirkung einer behaglichen Erzählweise verdanken und die in ihrer Schilderung auf Drastik verzichten. Nur jene großen Werke schläfern ein, deren Erzählung ein langer, ruhiger Fluss ist, dem der Leser sich anvertrauen kann, weil keine Felsspitzen daraus hervorragen.
Die letzten Gedanken vor dem Einschlafen, das wissen die Forscher heute, sind entscheidend für die Erholsamkeit des Schlafes, für die Träume – und für das Erwachen, ja sogar für den nächsten Tag. Also habe ich harmonische Naturschilderungen und beschauliche Landschaftsbeschreibungen bevorzugt, stets in einschlaftauglicher Länge.
Die Kapitel sind nicht nach Autoren geordnet, sondern nach Motiven: Wald, Meer, Bergland, Ebene, Fluss, kleine Stadt, Jahreszeiten… Denn es ist angenehm, zum Einschlafen ein Traumthema zu wählen und sich davon entführen zu lassen. Wer sich versehentlich verblättert, wird das Weiterlesen an anderer Stelle keineswegs störend finden; überall in diesem Buch entfaltet sich derselbe einlullende Zauber.
Hallo? Sind Sie noch wach? Jetzt, nach diesem Vorwort? Ich würde es bedauern. Aber ich akzeptiere es. Wenn Sie noch wach sind, liegt es schlicht daran, dass meine Schreibkunst sich nicht messen kann mit der Kunst der großen Autoren, denen ich jetzt das Feld überlasse.
Von den folgenden großen Dichtern genügt ein Kapitel in der Länge dieses Vorworts, um den Leser sanft in süßen Schlummer gleiten zu lassen. Diese Texte garantieren tiefen Schlaf, gute Träume und ein glückliches Erwachen.