Fitness im Welterbe: Kassel-Wilhelmshöhe
Wenn du in Kassel-Wilhelmshöhe umsteigen darfst, meint das Schicksal es gut mit dir. Denn der Anschlusszug, auf den du hier wartest, wird sich verspäten. Oder er ist längst weitergefahren, denn dein eigener Zug war verspätet. In jedem Fall wirst du in aller Muße auskosten können, was der Fahrgastverband als unbeliebtesten Bahnhof des Landes ermittelt hat. »Ich fühle mich heute so Kassel-Wilhelmshöhe« gilt als anschauliche Beschreibung einer depressiven Verstimmung.
Aber was immer andere sagen – du wirst diesen Bahnhof genießen. Denn die Wege sind weit hier, und du gehst gern zu Fuß. Vor allem beim Wechseln des Bahnsteigs. Es gibt Aufzüge, doch sie führen lediglich zu Langzeitparkplätzen. Die ausgedehnten Strecken sind vorteilhaft beim Wechsel des Bahnsteigs. Du liebst das gesunde Treppensteigen. Wadenmuskulatur, Sprunggelenke und Achillessehnen werden hier nachhaltig trainiert. Wer häufiger in Kassel-Wilhelmshöhe umsteigt, benötigt kein Fitnesscenter. Der Bahnhof ist das Studio.
Die Gestaltung ist denkbar unübersichtlich, doch gerade das reizt deine Abenteuerlust. Sie weckt in dir jenes schlummernde Gen der Entdecker, die sich einst mutig ins Unbekannte wagten. Du stößt auf Warteräume, die winzig sind, und du freust dich für die Wartenden, denn gerade Enge stiftet Kontakte und fördert die ersehnte menschliche Nähe.
Du selbst musst nicht unbedingt sitzen. Das hast du schon im Abteil getan. Viel mehr genießt du das Auf-und-ab-Wandern auf den endlosen Rampen. Du bewunderst die Betonarchitektur, die mit niedriger Überdeckung und sogenannten Fischbauchstützen etwas geschaffen hat, das es sonst nur im Orient gibt: einen Palast der Winde.
Wartende, die beklagen, es sei kalt hier, wenn es draußen warm ist, und eisig, wenn es draußen kühl ist, irren nicht. Und diejenigen, die beobachtet haben, dass es selbst bei Windstille auf diesen Bahnsteigen ständig zieht, haben ebenfalls recht.
Du genießt das. Die Kunst der Erbauer hat hier der globalen Erwärmung vorgebeugt.
Wolltest du jemals nach Rajasthan reisen, um in Jaipur den Hawa Mahal zu bewundern, den Palast der Winde? Das ist nicht mehr nötig. Irgendein Großmogul musste dort fast tausend vergitterte Fenster einbauen lassen, um den Innenräumen kühlende Luftzirkulation zu verschaffen. Die Ingenieure in Kassel sind mit Beton ausgekommen.
Du hast von den Wüstenstädten im Iran gehört, wo sogenannte Windtürme (Badgir) ohne energiefressende Klimaanlagen und Ventilatoren allein durch den Kamineffekt die warme Luft aus den Räumen abführen. Und zwar so, dass ständig kalte Luft nachströmt. Bitte sehr: In Kassel-Wilhelmshöhe hast du einen großen Windturm, wenn auch in der Horizontalen.
Was andere sehen: Hier ist es hässlich, windig, kalt. Sie sind frustriert.
Was du siehst: zwei Welterbestätten, Hawa Mahal und Badgir, in einem Bauwerk vereint. Und das auch noch kostenlos – wie das Fitnessangebot. Du bist dankbar.
Talkshow im Ruhebereich: Dauertelefonierer
Du bist tiefenentspannt. Äußere Unruhe bringt dich selten aus der Fassung. Du zählst zu jenen raren Persönlichkeiten, die der Zen-Meister Shunryu Suzuki meinte, als er sprach: Mitten im Lärm verbleiben sie in der Stille.
So ist das bei dir. Im Kern deines Wesens spürst du unerschütterlichen Frieden. Gleichwohl bevorzugst du auf Bahnfahrten die Abteile, die als Ruhebereich gekennzeichnet sind. Piktogramme weisen den Weg: ein durchgestrichenes Handy und ein Gesicht mit Zeigefinger auf den Lippen. Psst, steht daneben.
Das ist die Lounge auf Schienen. Aufgesucht wird sie von Menschen, die für ihre Telefonate eine diskrete Umgebung schätzen. In den gewöhnlichen Abteilen ist die Geräuschkulisse oft so lebhaft, dass die fernmündliche Verständigung leidet. Dort muss man beim Telefonieren die Stimmbänder strapazieren. Nicht so im Ruhebereich. Hier sind ausgiebige Telefonate in gewöhnlicher Zimmerlautstärke möglich. Die Stimme noch weiter zu dämpfen, wäre unfair. Schließlich möchten alle mithören.
Psychologische Naturtalente wie du lauschen hier gewinnbringend den Mitteilungen der Reisenden. Die Bahn will damit ihren Auftrag zur sozialen Integration erfüllen. Anschaulich und für alle hörbar soll ein repräsentativer Querschnitt durch die Gesellschaft geboten werden, eine aktuelle Bestandsaufnahme all der Sorgen und Nöte, der Wünsche und Hoffnungen der Menschen im Lande. Was ihre Herzen bewegt, soll klar und verständlich offenbart werden. Und das geschieht!
„Also, warum meldet er sich nicht?“, hörst du sieben Reihen vor dir, ohne dass du die Frau sehen kannst. „Muss er wirklich so viel arbeiten? Okay, da steht irgendeine Prüfung an, aber er kann mich doch mal anrufen! Oder hat er in der Familie Probleme? Wahrscheinlich will er mich damit nicht belasten, aber mit mir kann er doch über alles reden! Zeit für sich? Die lasse ich ihm ja! Aber wofür sollte er sie brauchen? Für welche Hobbys denn? Und für welche Kumpels? Also, nein. Ich frage mich wirklich, ganz ehrlich, hat das Zukunft? Wenn von ihm so wenig kommt?“
Auch du hast da Zweifel. Aber du möchtest nicht vorschnell urteilen. Bis zum Ende der Fahrt wirst du genügend Anhaltspunkte sammeln können, um die Frau beim Aussteigen kompetent zu beraten: Lassen Sie den Kerl ziehen! Sie haben was Besseres verdient! Oder: Geben Sie ihm noch eine Chance, drängen Sie ihn nicht; er muss auch mal das Gefühl haben, allein zu entscheiden. Hast du deine Karte dabei? Gut. Überreiche sie gern. Heute war deine Therapie noch honorarfrei.
Viele potenzielle Klienten sind unterwegs. „Ich hab schlechtes Karma“, heißt es drei Reihen hinter dir. „Seine Eltern kommen zu Besuch!“ Das wird nun näher ausgeführt. Jemand anderes stellt fest: „Angeblich wollte sie kein Kind, aber sie hätte ja auch mal was tun können.“ Du hörst dann auch, was. Der eine hat mit seinem Fitnesstracker Probleme. Der andere verträgt kein Sojaprotein. Weiter hinten geht es um die Hausratsversicherung. Zwei Reihen vor dir reist eine Midlife Crisis. Jemandes Nachbar hat das Auto geschrottet. Zwei sind auf Wohnungssuche. Die Lady schräg gegenüber will die Zalando-Klamotten nun doch zurückschicken. „Sind inzwischen reichlich getragen, klar, ich hab sie gerade an.“ Ein Blick, ja, Retournieren wäre eine gute Wahl. Sehr weit hinten geht es um den Regenwald: „Schlimm ist das, ganz schlimm!“ Jemand vor dir erläutert die Vorzüge verschiedener Campingplätze. Und die junge Frau eine Reihe hinter dir berichtet: „Meine Eltern glauben immer noch, ich schulde ihnen was.“ Warum sie anderer Ansicht ist, folgt dann ausführlich.
Natürlich ist das nicht immer und ununterbrochen so. Es können Pausen eintreten. Selbst im Ruhebereich gibt es Phasen, da ist es tatsächlich ruhig. Das irritiert. Diese Leerzeiten zu füllen, bist du ausersehen. Man hat dir oft bestätigt, dass du das Selbstbewusstsein anderer Menschen zu heben vermagst. In deiner Gegenwart fühlen sie sich wertvoller. Und das ist meist bitter nötig, immer wieder, auch in diesem Wagen. Du weißt: Am schnellsten liftest du die Stimmung der anderen, indem du dich selbst als Versager und Pechvogel darstellst. Gleich jetzt. You’ll never talk alone.
„Meinen Job bei der Post bin ich los“, erzählst du in dein stummgeschaltetes Phone. „Irgend so ein Förster hat gestern die zigtausend Briefe entdeckt, die ich im Wald vergraben hab.“ – Dann: „Beim Erbe haben sie mich total ausgebootet. Ich komme wohl nie auf einen grünen Zweig.“ Du merkst schon, wie die Laune im Wagen steigt. „Bei diesem Dating Portal bin ich auf so ein Romance Scamming reingefallen, das war lediglich ein Ghostwriter, mit dem ich da geflirtet habe, das hat mich nur Geld gekostet.“ Mit dem anschließenden Seufzer: „Ich werde nie meine große Liebe finden.“ Gut kommt auch: „Die Grasplantage ist aufgeflogen, dabei haben wir da ein Vermögen reingesteckt, jetzt droht sogar Knast.“ Und falls immer noch nicht alle zuhören: „Meine Schwester hat sich ja eine Zeit lang als Online-Stripperin versucht, aber das ist nicht so richtig ins Laufen gekommen. Warte mal, den Link könnte ich raussuchen.“ Jetzt müssten alle richtig gut drauf sein. „Nee, finde ich jetzt nicht.“ Du kannst dich in deine innere Stille sinken lassen.
Du reist in der Ersten Klasse? Ach so. Okay, dann Campingplätze und Regenwaldrettung ade. In diesem Ruhebereich sitzen die Leute, die das Land am Laufen halten. Die echten Influencer. Und du gehörst dazu. Danke im Namen aller anderen Reisenden! Hier werden seriöse Mitarbeitergespräche geführt. Hier wirst du Zeuge von Spitzenverhandlungen auf allerhöchster Ebene.
Hinter dir tönt es bereits: „Ich frag ihn also, ‚Wie würde denn Ihre Lebensgefährtin Ihre größte Schwäche beschreiben?’ Und er also: ‚Ach, die würde erzählen, dass ich sehr direkt sein kann. Und das stimmt ja, sagt er, ich bringe die Dinge gern auf den Punkt.’ Oh, Gott, habe ich gedacht, diese Floskeln kannst du nicht mehr hören. Von wegen: ‚Meine Schwäche ist: Ich bin ungeduldig.’ Oder ‚Meine Schwäche ist: Ich habe gern alles unter Kontrolle.’ Alle haben dieselben Antworten drauf. ‚Meine Schwäche ist, dass ich vielleicht zu genau bin’, oh Gott, ‚dass ich zu sehr auf Effizienz achte.’ Alles schon tausendmal gehört. Wann kommt einer mal mit der Wahrheit raus: ‚Ich bin einfach ein Low Performer.’ Den würde ich glatt einstellen!“
Oh, klingt gut. Du selbst warst von Geburt an ein High Performer. Aber du kennst viele Low-Leute. Du hast deine Karte dabei. Jetzt überreichst du sie dem schwadronierenden Personaler und empfiehlst deine alten Klassenkameraden Schlaffi und Schlurfi. Null Performance garantiert.
Mal sehen, was da noch kommt. Auch in der Business Class geht es zuweilen um Beziehungen, aber mehr in der Form von Sorgerechtsverhandlungen. Und auch mal um Alltagsprobleme, etwa wenn Wurzeleinwuchs in der Abwasserleitung zu beklagen ist, „und das musst du erst mal orten, auf fünftausend Quadratmetern Grundstück“. Du befindest dich unter den wichtigsten Leuten des Landes. „Ich sage also zu denen“, vernimmst du von weiter hinten, „ich sage: Bitte, Leute, nennt mich nicht Businessguru, nennt mich nicht Meister, nicht Managementvordenker, ich bin einfach einer von euch! Und ihr wisst, was zu tun ist: Reißt die Denkmauern ein, Leute, legt die Scheuklappen ab, Stichwort Paradigmenwechsel, ihr habt die Energie, ihr seid hungrig, befreit euch aus Denkschablonen, sage ich, Stichwort Leadership, macht euch fit für die Zukunft! Ihr wollt Führungskräfte werden? Dann vergrößert euren Blickwinkel, verlasst die ausgetretenen Pfade!“
Hier ist deine Hilfe dringend nötig. Wer den Ruhebereich dermaßen vollfloskelt, bedarf deiner Unterstützung. Wer zu wissen glaubt, wie es geht, segelt gewöhnlich geradewegs in den Burnout. Wie es dein alter Lehrer Charles Bukowski ausdrückte: Leute, die den Zug heute mit Bedeutsamkeit füllen, werfen sich morgen davor. Du bist berufen, das zu verhindern, schon um den Lokomotivführer vor Traumatisierung zu schützen. Hilf dem lädierten Selbstwertgefühl der Reisenden. Sie tun nur so wichtig, weil sie fürchten, klein und unbedeutend zu sein. Da kommst du ins Spiel. Du an deinem stummen Handy. Du stapelst tief.
„Jakob?“, fragst du ins Telefon. „Ich wollte dir nur sagen, dass sie jetzt das Laken gefunden haben. Das ist bereits in der KTU. Ich schlage vor, wir hauen ab. Ich hab keine Lust, noch mal so lange zu sitzen.“ Diese Hinweise auf dein Pech sollten die ersten verängstigten Führungskräfte ein wenig stabilisieren. Oder: „Mit den Coins bin ich total auf die Schnauze gefallen. In wenigen Wochen habe ich jetzt mehr verloren als mein Vater im ganzen Leben verdient hat. Und übrigens auch mehr als ich je verdient habe.“ Ah, nun huscht ein Lächeln über die Gesichter der umsitzenden Mühseligen und Beladenen. Du legst nach: „Kommt noch dazu, dass mein Doktortitel aufgeflogen ist. Hundertzwanzigtausend habe ich damals dafür hingeblättert. Das Geld ist sowieso weg, nun auch der Titel.“
Wenn du so weitermachst, wird das Abteil den Zugbegleiter bitten, für dich zu sammeln. Das kannst du verhindern. „Mein Status im OP wird immer schwieriger nach dem Fall. Ich habe die Frau noch gefragt: Es ist doch das linke Bein? Aber die hatte eine Links-Rechts-Schwäche oder war schon sediert und jedenfalls nicht mehr ganz da. Na ja. Ich hätte das rechte Bein abnehmen sollen. Das schleppt sie nun immer noch mit. Da soll Aschenberg jetzt ran. Mich lassen die bald nichts mehr tun. Gott, die Sache mit der Namensähnlichkeit letztes Jahr, wo wir die falsche Frau operiert haben, das war die Schuld des Personals! Und mal ganz unter uns: Ist denn das wirklich so schlimm? Die Frau Tietje läuft immer noch mit meiner Schere im Bauchraum rum, und der geht’s gut. Jedenfalls habe ich nichts mehr gehört.“
Gut. Das sollte reichen. Du kannst dich wieder in deine innere Stille zurückziehen. Um dich herum ist alles verstummt. Entweder malen sich alle die Story weiter aus. Oder einer verständigt via Messenger die Bundespolizei. Das wäre ja auch mal was. Wenn die reinkommen und dich fragen: „Haben Sie hier telefoniert?“ – „Äh, ja.“ Du könntest dich auf einen geschassten Bahnvorstand berufen, der mal gesagt hat: Vogelgezwitscher im Wald ist doch auch eine Art öffentliches Telefonieren – warum soll das in der Bahn stören? Ebent. Aber jetzt ist es ja vorläufig still, eigentlich zum ersten Mal im Ruhebereich. Du hast das erreicht. Was für ein Genuss! Danke. Oh, Moment. Dein Phone summt. Ah, da ruft jemand an!
Die Vernissage
Vom verblichenen Henri Nannen ist ein skandalöses Wort überliefert: „Bei Vernissagen halten sich die Hamburger am Sektglas fest, scheuern mit dem Arsch an den Bildern und bequatschen, was sie gestern erlebt haben.“
Der Ostfriese hat unserer Weltstadt bitter Unrecht getan. Vielleicht bin ich nicht groß genug, aber ich scheuere garantiert nur mit dem Hinterkopf über die Bilder. Und ich halte mich bestimmt nicht am Sektglas fest, sondern greife auch aktiv nach den Häppchen, die auf appetitlichen Platten vorbeigetragen werden.
Natürlich ist mir klar, was Nannen meinte. Vernissagen, wollte er sagen, sind nicht allein zum Essen und zum Trinken da. Nein, sie dienen auch zum Aufwärmen in kalter Jahreszeit. Sie sind ein idealer Ort, an dem wir uns mit Freunden verabreden, um von dort die eigentlichen Unternehmungen des Abends anzusteuern.
Was er allerdings am schärfsten kritisiert hat, trifft leider zu: Allzu häufig hängen Bilder an den Wänden, und oft so dicht, dass wir uns nicht locker anlehnen können. Doch eben diesen Umstand nehmen mit hanseatischer Toleranz in Kauf, zumal der Rest des Gebotenen kostenlos und oft von angenehmer Qualität ist.
Benötigen Sie Hinweise, in welchen Galerien die Häppchen fein abgeschmeckt sind und wo der Wein in Gläsern kommt? In einigen gibt es ja leider Plastikbecher und trockenes Brot. Das hat mit Kunst nichts mehr zu tun.
Aber Sie kennen sich ja bereits aus. Sie kommen auch immer erst eine Stunde nach Beginn. Dann sind die Eröffnungsreden vorüber. Wir dürfen uns ungestört unterhalten und einander zuprosten.
Für den Fall, dass jemand – womöglich der Künstler oder Galerist – nach unserer Ansicht forscht, loben wir die Werke, besonders die, an denen bereits ein roter Verkaufspunkt klebt. Wir äußern Höflichkeiten wie: Das ist spannungsreich und virtuos, aber auch ambivalent und auf jeden Fall innovativ, dieses verblüffende Kolorit, diese ungewöhnliche Ästhetik, das ist Horizont erweiternd, verstörend, das hält der Gesellschaft den Spiegel vor!
Dass wir den Kram mit ein bisschen zeitlichem Aufwand auch selbst hinkriegen würden, verschweigen wir diskret. Wir wollen keinen überflüssigen Smalltalk provozieren. Wir wollen uns rasch den wesentlichen Themen zuwenden: Wohin mit der benutzten Serviette, wohin mit den Spießchen der Häppchen? Wer ist das da drüben eigentlich? Und wohin gehen wir als nächstes?
Denn als Hanseaten sind wir kommunikativ und zukunftsorientiert. In welcher Stadt könnte Kunst besser gedeihen?
Wird meine Frau vor mir erleuchtet?
Vor der Erleuchtung Holz hacken und Wasser holen, nach der Erleuchtung Heizung einschalten und Wasserhahn aufdrehen. – Zen-Weisheit
Wer wird eigentlich eher erleuchtet? Meine Frau oder ich? Das ist eine bange Frage. Sie bringt mich um den Schlaf. Zunächst mal: Es gibt keine Erleuchtung, niemand ist erwacht, es gibt sowieso überhaupt niemanden – okay, alles klar.
Aber diesen kleinen Klick, der alles verändert, der unmissverständlich offenbart, dass es niemals einen Unerleuchteten gegeben hat und dass alles, was jemals gesucht wurde, schon immer da war und hier ist, diesen kleinen Klick, der einen fortan berechtigt, als Satsanglehrer aufzutreten – den wird meine Frau doch nicht etwa eher erleben? Muss ich fortan Zeuge sein, wie sie in wallender Kleidung vorne sitzt und bewundert wird, während ich unbeachtet und mit dünnem Lächeln Eintrittsgeld kassiere?
Oh Ramana, Nisargadatta, alle Ammas, Babas, feinstoffliche Wesenheiten – könnt ihr es noch verhindern?
Nichts gegen meine Frau, sie ist liebenswürdig und hilfsbereit. Doch seit einiger Zeit scheint sie mich auf dem spirituellen Weg – der natürlich gar kein Weg ist, weil es ja kein Ziel gibt und auch keinen Raum für einen Weg und keine Zeit, in der man ihn zurücklegen könnte – dennoch, auf diesem nicht-existenten Weg scheint sie mich zu überholen! Einige Indizien bei ihr ähneln entsetzlich den Symptomen unmittelbar vor dem Durchbruchserlebnis bei anderen Meistern.
„Bei anderen Meistern“? So drücke ich mich bereits aus! Schreck! Werde ich bald einen Thron für sie bauen müssen, zumindest aus Decken und Kissen? Noch mit einem goldenen Buddha und einem Foto aus der Linie großer Meister? Muss ich Blumen kaufen? Gitarre spielen und singen? Wird sie mich mit dem berühmten Wort von Robert Adams – „der schnellste Weg ist Dienst am Meister“ – zu untertänigen Arbeiten ermahnen?
Wahrscheinlich! Ich werde Zettel auslegen, auf dem ihre Zuhörer Namen und E-Mail-Adressen eintragen müssen. Ich werde am Eingang einen Tisch aufbauen mit einem selbst gebastelten Pappschild „Spende 12 Euro“; zwei davon sind für mich.
Ich sehe mich das Mikrofon justieren, in das sie einfühlsam ihre unwiderlegbaren Weisheiten hauchen wird. Ich arrangiere Sitzkissen und Stühle für die dummen Schüler und erkläre, dass sie am besten noch vorher auf Toilette gehen sollen. [/su_column]
Und dann stehe ich hinter dem Tisch mit den geschönten Fotos und vervielfältigten Mitschriften und warte, dass jemand etwas kauft. Natürlich wird sie mich bitten, die Dialoge zu transkribieren und ein Buch daraus zu machen, damit ihre Präsenz in ganz Mitteleuropa heilsam wirken kann.
Und ganz nebenbei trage ich das Gepäck und fahre sie.
Was habe ich eigentlich davon? Sie hat durch ihre so genannte Nicht-Erfahrung geschnallt, dass es keinen Vorteil gibt. Für niemanden. Deswegen kann sie ab sofort jeden Vorteil schamlos nutzen.
Wenn ich mich beklage, wird sie sagen: „Es gibt nur spontane Handlungen, aber niemanden, der sie ausführt. Wirklich, Dietmar, hier ist niemand.“
Ich frage mich, wie das im Bett wird.
Warum, bitte, werden die Partner von Satsang-Lehrerinnen und Lehrern so selten oder nie erleuchtet? Warum verkümmern sie statt dessen rasch alternd an der Seite ihrer Strahlepartner? Falls sie nicht rechtzeitig die Segel streichen!
Und was soll ich jetzt tun? Noch ist es nicht soweit.
Meine Frau ist noch nicht erleuchtet und behauptet auch, sie könne es nie werden, wolle es nie werden, es interessiere sie auch gar nicht.
Aber gerade das ist ein äußerst alarmierendes Zeichen! Ich höre da was klicken!
Sorry, Leute, ich muss mich sofort auf ein Retreat begeben, „enlightenment double intensive“. Vielleicht kann ich’s noch schaffen!
mehr in Dietmar Bittrich: „Die Erleuchteten kommen“, Verlag Hoffmann und Campe
Ich werde lächeln
Ist Erleuchtung erblich? Ich hoffe es! Oder gibt es wenigstens Gene, die eine Entwicklung dorthin begünstigen? Das muss so sein! Meine Eltern haben beide - wenn auch erst im hohen Alter - den ersehnten Zustand des No-Mind erlangt, jene von uns allen ersehnte Gedankenstille, in denen eine höhere Intelligenz die Führung übernimmt. Im Falle meiner Eltern war das der Leiter eines Pflegeheims.
Es gibt blitzartige Erleuchtungen, bei der die illusionäre Welt auf einen Schlag versinkt. Und es gibt, weit häufiger, die allmähliche Entwicklung. Die Anzeichen können früh sichtbar werden. Bereits bei einem Fünfzigjährigen. Dass mir im Gespräch nicht das richtige Wort einfällt und ich stattdessen ein anderes sage, das ähnlich klingt - ist das nicht schon ein Hinweis darauf? Dass ich im Urlaub nur schwer zum Hotel zurückfinde, das kennt meine Frau schon. Dass ich Termine verpasse, meinen Schlüssel nicht finde, dass ich vergesse, wie lange meine Eltern schon tot sind und welchen Wochentag wir haben - na ja, das kann schon mal vorkommen. Und es wird häufiger vorkommen, da bin ich zuversichtlich.
Wenn Sie mögen, dürfen Sie es auch Demenz nennen. Sie selbst sind ja dagegen gefeit. Sie sind, wie Ihre Freunde oder Kinder gerne bestätigen werden, noch völlig klar im Kopf. Haben Sie eben aufgeatmet, als ich schrieb: Bereits bei Fünfzigjährigen können die Symptome auftreten? Haben Sie sich entspannt, weil Sie so viel jünger sind und also noch reichlich Zeit haben? Oder sehen Sie nur so jung aus? Weil Sie sich körperlich fit halten und, wie es so schön heißt, geistig aktiv bleiben?
Das hilft nichts. Es gibt dreißigjährige Mathematiker und Schachmeister mit sonderbaren Ausfällen in der Gedächtnisleistung und wachsenden Orientierungsproblemen. Kant war im Alter dement, ebenso Hegel, Karl Marx und Edmund Husserl, der ruhmreichen Zen-Meister Shunryu Suzuki war es ebenso wie sein Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker, dessen Bewunderer Walter Jens ist es.
Geistige Aktivität sorgt nicht für bleibende Frische des Verstandes. Einstein konnte zuletzt selbst schlichteste Rechenaufgaben nicht mehr lösen, auch nicht die berühmte Aufgabe aus dem Demenztest: hundert minus sieben. Stattdessen lachte er häufig grundlos, klopfte auf das Holz eines sonderbaren Gegenstandes, den seine Pflegerin als Geige bezeichnete, und unterhielt sich mit seiner Tabakspfeife. Kreuzworträtsel oder die Rätsel des Universums - es nützt nichts, sie zu lösen. Sie helfen nicht gegen Demenz. Der Sog des No-Mind ist stärker. Kein Mittel verhindert Erleuchtung. Also bereite ich mich vor.
Falls Sie und ich uns demnächst treffen, kann es sein, dass Sie mich dabei ertappen, wie ich leichte Gedächtnisstörungen überspiele. Wenn meine Frau mich begleitet, wird sie mir dabei helfen. Falls Sie mich zu Hause besuchen, wird Ihnen auffallen, dass ich Merkzettel habe, am Kühlschrank, an der Wohnungstür, am Spiegel, am Bücherregal. Und auf meinem Schreibtisch wird ein Durcheinander von Zetteln herrschen mit Namen, die ich nicht zuordnen kann, und mit Telefonnummern, bei denen ein paar Ziffern fehlen. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich nicht gleich zurückrufe.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich abends länger wach bleibe als bisher. Vermutlich kehrt sich sogar mein Tag-Nacht-Rhythmus um. Ich werde nachts zu wandern beginnen, und ich werde es zu erklären wissen. Das alles ist noch Vorspiel. Es gehört noch zum anstrengenden Teil: Ich gebe noch vor, alles geschehe in meiner Absicht und ich hätte mein Leben unter Kontrolle. Eine Zeit lang werde ich noch als normal gelten wollen.
Auch meine Frau und meine Verwandten werden einiges tun, um den Eindruck der Normalität zu erwecken. An ihrem Erschrecken und an ihren entgeisterten Blicken werde ich erkennen, dass ich etwas Unpassendes gesagt oder getan habe. Zu diesem Zeitpunkt werde ich noch versuchen, meinen Ausrutscher, an den ich mich schon nicht mehr erinnere, durch Gelächter zu verharmlosen.
Wenn Sie mich allerdings besuchen, und Sie finden die Fernsehzeitung in meiner Tiefkühltruhe und den Kuchen im Blumentopf, wenn Sie bemerken, dass ich auf der Straße glücklich Fremde umarme, wenn ich in der Bahn unvermittelt in Lachen ausbreche und im Supermarkt ein Gespräch mit den Brathähnchen führe, dann können Sie sicher sein, dass es mich nicht mehr stören wird.
Auch wenn meine Begleitung sich zu einer Erläuterung genötigt fühlt und Worte gebraucht wie „verwirrt“ oder „desorientiert“ oder „nicht mehr ganz richtig im Kopf“ oder „Alzheimer“: Dann bin ich nicht im Geringsten beunruhigt. Dann bin ich im No-Mind. Dann bin ich erleuchtet. Sie werden es an meinem Lächeln erkennen. Seien Sie doch so nett und lächeln zurück.
Die Lesung
Gehen Sie gern zu etwas, das „Lesung“ heißt? Ich eigentlich auch nicht. Aber manchmal tun wir jemandem einen Gefallen. Dann treten wir beklommen in eine Buchhandlung mit Klappstühlen oder in einen schwach gefüllten Saal und fragen uns bang, wie lange die Sache wohl dauern wird.
Die anderen Besucher wirken auch so, als fühlten sie sich nicht ganz wohl. Sie sehen ernst und bekümmert aus. Scheu taxieren sie einander. Entweder es sind Intellektuelle, oder sie machen sich Sorgen, dass sie keine sind. Oder es sind Angestellte des Veranstalters, die zum Bleiben verdonnert sind.
Wir setzen uns auf keinen Fall in die erste Reihe, sind allerdings trotzdem beleidigt, wenn jemand sich vor uns pflanzt. Dem Programmzettel müssen wir entnehmen, dass der Autor mehrere Bücher geschrieben hat und anderswo bereits gelobt worden ist.
Eine Buchhändlerin, die es gut meint, oder ein Kulturvertreter, der sich auch nicht auskennt, stolpern durch eine kurze Einführung. Dann schlurft der Autor zum Pult. Tuscheln im Publikum. Vergleiche. Das soll er - ? Doch, ja, tatsächlich, das muss er sein! Aber seit das Foto für das Plakat gemacht worden ist, scheint er ungewöhnlich harte Zeiten durchgemacht zu haben. Umständlich holt er ein Buch aus seiner Plastiktüte. Es ist schreckenerregend dick. Hoffentlich hat er nicht noch ein weiteres dabei?
Das Verlockendste an ihm ist die Flasche Mineralwasser auf seinem Tisch. Wir haben leider nichts zu trinken. Ein Kaffeeautomat surrt am anderen Ende des Raums. Zu spät. Der Autor stottert bereits eine Entschuldigung für seine Werke. Dann nimmt das Nuscheln seinen Lauf. Anfangs versuchen wir, wohlmeinend zu folgen. Dann schweifen wir ab. Nicht aus bösem Willen, nein, er inspiriert uns dazu! Denn da tauchte doch eben ein Name in seinem Text auf, der erinnert uns an etwas. Ja, hieß nicht damals unsere Nachbarin so ähnlich? In der anderen Stadt? Oder ein Lehrer? Wir entsinnen uns heller Kindheitstage, die erste Liebe leuchtet auf.
Auch andere Besucher hören längst nicht mehr zu. Wir erkennen es am entrückten Lächeln auf ihren Gesichtern. Nur selten, wenn der Autor hustet oder dramatisch tut, werden wir aufgestört. Allerdings gibt es auch Autoren, die beim Vorlesen den Augenkontakt suchen. Speziell für sie reaktivieren wir unseren undurchschaubaren interessierten Blick, den wir in endlosen Schulstunden erprobt haben und hinter dem sich nichts verbirgt als selige Leere.
Doch unser Blick wird auch zu Höherem geleitet: etwa zur Decke des Raumes. Da gibt es hochinteressante Rauchmelder und eine Sprinkleranlage. Und erstaunlich, all die Löcher in den Dämmplatten! Wie viele mögen es sein? Sollen wir mal zählen? In einer Buchhandlung bietet sich überdies die Möglichkeit, die Buchrücken in den Regalen zu studieren. Andere Besucher tun das längst. Wir erkennen es an ihren verrenkten Hälsen.
Vorne, in völliger Fehleinschätzung der Lage, mosert der Autor unverdrossen fort. Ob wir wohl unser Smartphone herausziehen und die Mails checken dürfen? Wahrscheinlich würde das auffallen. Bei Lesungen wird ja niemals das Licht gedimmt, aus durchschaubaren Gründen.
Das hat einen unglücklichen Nebeneffekt. Wir sind schutzlos den Blicken derjenigen ausgeliefert, die draußen am Schaufenster vorbeischlendern - schadenfroh. Für sie sitzen wir auf einer beleuchteten Bühne. Einige bleiben feixend an der Scheibe stehen. Ja, grinst ihr nur in eurer geistlosen Freiheit!
Um es denen draußen zu zeigen, raffen wir die letzte Konzentration zusammen und hören zu. Nur ganz kurz. Aber gerade noch rechtzeitig. Denn der Autor kommt zum Schluss. Erleichterter Beifall. Auch wir klatschen freigiebig mit, denn die Gefahr einer Zugabe besteht bei einer Lesung nicht. Auch die Aufforderung, Fragen zu stellen, ist auf allgemeinen Wunsch weitgehend abgeschafft worden. Denn in der Vergangenheit führten Fragen häufig dazu, dass der Autor antwortete. Und das möchte nun wirklich niemand.
Jetzt noch zum Signieren anstellen? Wir haben eine Anthologie mitgebracht, in welcher der Autor mit zweieinhalb Seiten vertreten ist. Nun extra ein Buch von ihm zu kaufen, kommt uns übertrieben vor. Obwohl man signierte Bücher ganz gut bei ebay los wird. Aber vielleicht signiert er uns das Lesezeichen, das wir als Geschenk der Buchhandlung ergattert haben?
So ist es immer. Oder so ähnlich. Und weil es so ist, ersinnen die Autoren mittlerweile neue Attraktionen, um die Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sie klettern auf Hochsitze oder rezitieren aus Bäumen, sie lesen aus einer extra aufgestellten Badewanne oder im Bus. Als qualvollstes Ereignis habe ich die Lesung auf einem Ausflugsschiff empfunden. Erst in dem Augenblick, als die Autorin vorzulesen begann, erkannten wir, dass das rettende Ufer nicht mehr zu erreichen war.
Es gibt eigentlich nur eine einzige Art Lesung, die rundherum schön ist. Das ist diejenige, bei der wir selbst vorlesen. Wenn wir, Sie oder ich, einige Zeilen geschrieben haben oder gar etliche Seiten, abgerungen dem Tod und der Verzweiflung, dann können wir sicher sein, dass die Welt genau darauf gewartet hat. Danach dürstet sie!
Und wenn wir daraus etwas vortragen, dann sehen wir ausschließlich in leuchtende Gesichter. Dann begegnen wir Blicken, die immer nur eines von uns zu verlangen scheinen: Mehr, mehr! Und wir geben ihnen mehr…
Sie kommen doch zu meiner nächsten Lesung?!