NachtausgangLeseprobe
nachtausgang

Jost Nickel (d. i. Dietmar Bittrich)

Nachtausgang

Erzählung

Bibliophiler Band, 250 numerierte und signierte Exemplare.
Mit 8 Farblinolschnitten von Svato Zapletal.
Geprägter Hardcovereinband
72 Seiten.
Vergriffen
antiquarisch ca 20 €

»Die letzte Unruhe wird ausfließen. Noch wirbeln die geladenen Teilchen in den Gefäßen. Doch wenn sie ausgespült sind, stehe ich auf. Ich mache diesen einen Schritt: rückwärts. Ich trete ein in die Wand, schon ebenso kühl, breite mich in den Stein und bleibe.«

»Jost Nickel zeichnet seinen Gang aus der Welt auf: Zuerst sind noch Ausgänge möglich in der Nacht, Erfahrungen mit Toten, die ihr letztes Leben ausschwitzen und ausschwatzen, dann geht es nur noch in den nächtlichen Garten des Nachbars, später, nach allen denkbaren Vorsichtsmassnahmen, in das verlassene Treppenhaus des Wohnhauses. Zuletzt ist die Wohnung der einzig mögliche Lebensraum. Doch auch aus ihr werden alle Dinge der Welt und des Lebens verbannt, bis der Narziss in den dumpfen Spiegel einer steinernen Wand eingeht – vergeht… Die Erzählung zeigt den Weg ins Innere der Dinge, ist das Journal intime eines Romantikers am Ende unseres Jahrhunderts, dessen Bergwerk die ausgeräumte, zerstörte Wohnung, in der man nur mehr die Steine der Grundmauer sieht. Die Affinität von Romantik und Krankheit, schon lange bekannt und interpretiert, wird von Jost Nickel ans Äußerste getrieben: und so entsteht ein wirkliches literarisches Kunstwerk! Regression, Introversion, Narzissmus: bloße Begriffe. Bei Jost Nickel werden sie konkret, reine Poesie.«
Jürg Scheuzger, Neue Zürcher Zeitung

(Für meine frühen Bücher wählte ich ein Pseudonym: ‚Jost Nickel’. Ich hielt den Namen für einprägsam und einmalig – bis sich zwei Gentlemen meldeten, die ebenso hießen: ein Schlagzeuger und ein Sprachwissenschaftler. Sie machten ihre jeweilige Sache so gut, dass ich respektvoll zu dem Namen in meinem Pass zurückgekehrt bin, zu Dietmar Bittrich.)

Das Treppenhaus

Schon der Schritt über die Fußmatte ist wichtig.
Er muss unauffällig sein. Wie absichtslos. Den rechten Fuß zuerst, das gilt bereits hier. Nur leicht anheben, aber die Fußmatte nicht berühren. Die Sohle darf die Borsten nicht streifen. Obwohl eine Berührung ausgeglichen werden kann. Aber später erst, erst weiter unten.
Schlimmer wäre es, würde die Matte aus ihrer Lage geraten. Wenn die Fußmatte verschoben wird, füllt sich der Tag mit Drohungen. Dann ist es wichtig, sofort umzukehren. Dann ist es wichtig, die Tür fest zu verriegeln. Dann ist Ruhe lebensnotwendig.
Aber ich beherrsche den Schritt über die Fußmatte. Unangetastet bleibt sie in der gebotenen Position. Ein Luftzug nur berührt die Borsten. Das ist gut. Das hilft gegen den Schmerz. Ich schließe die Tür leicht und sicher. Nicht zu laut. Nicht zu vorsichtig. Vorsicht macht anfällig. Keinen Unterschied darf man hören zum Schließen der übrigen Türen.
Alles ist anders an dieser Tür. Hier wird entschieden über das Glück und den Tod. Aber der Unterschied darf nicht wahrnehmbar sein. Nicht für die anderen.
Ich lasse nichts eindringen. Für die anderen bin ich unberührbar geworden. Für den Lehrer, der einkaufen geht. Für die Frau, deren Sohn englische Briefe schickt. Für den Trinker, die Depressive. Für die Witwe des Fotografen. Für das Ehepaar mit dem tauben Kind. Für den Reisenden. Ich gehe vorüber, nichts dringt ein.
Das Antworten habe ich aufgegeben vor langer Zeit. Ich meide die Fragen, auch die schweigend gestellten. Ich weiß ihr Entstehen von fern zu verhindern. Ich ziehe den Bannkreis jeden Tag. Ich verteile die Münzen. Münzen, die die Fragen bannen. Kupferne Münzen, die schützen.
Stimmen hängen im Treppenhaus wie Gerüche. Missgunst und Streit hallen nach. Tuscheleien nisten zwischen den Töpfen mit grünem Kraut. Was gedacht wurde im Vorübergehen, setzt sich fest, wartet und sammelt Kraft. Ich schütze mich. Jede Stufe birgt ihr Geheimnis. Vierundfünfzig steinerne Stufen, mit Holz belegt, mit Linoleum beklebt, die Kanten mit Messing beschlagen, die Vorderseiten gefliest. Ich bin gewappnet, ich kenne den Weg.
Seit der Lehrer für mich einkaufen geht, kann ich mich ganz auf das Treppenhaus konzentrieren. Seit ich die englischen Briefe nicht mehr übersetze. Seit ich den Trinker nicht mehr sehe und seine Frau nicht mehr anhöre. Seit ich auf dem Begräbnis war. Seit das Ehepaar dem Kind verboten hat, an meine Tür zu schreiben. Seit der Reisende nicht mehr heimkehrt.

Vierundfünfzig Stufen, das ist nicht viel. Wie leicht bin ich vierundfünfzig Stufen gegangen, früher. Wie leicht, wie nachlässig tun es die anderen. Der Zeitungsbote, wie unbedacht. Und die auf den Trockenboden gehen, durch die Tür gegenüber. Mit einem Wäschekorb unter dem Arm, und doch, wieviel leichter als ich steigen sie die Stufen. Wie unachtsam.
Das Wissen kommt langsam. Es ist eine wachsende Last. Wenn man sie spürt, ist es zu spät. Schon weiß man zuviel. Ich weiß, was im Parterre die zweite und dritte Stufe bedeuten, und was der lockere Geländerpfosten im ersten Stock. Ich kenne die Stellen, an denen das Linoleum sich löst, wo es durchgetreten, zerkratzt, abgeschabt ist, und weiß die Bedeutung. Die lockeren Fliesen kenne ich, und ich ahne, was dahinter sich öffnet. Ich weiß, wer im Treppenhaus wohnt.

Ich drehe den Schlüssel zweimal im Schloss. Es ist still. Das Treppenhaus wartet. Die ich reden höre, wenn ich lausche aus meiner Wohnung, die schweigen jetzt. Das Flüstern, das bis vor mein Schlüsselloch dringt – aber nicht weiter -, das Flüstern erlischt, wenn ich komme. Nur im Dunkeln noch kann ich die Wohnung verlassen. Nur nachts ist die Konzentration noch möglich, die übergroße Konzentration, mit der allein zu erspüren ist, was hier lauert.
Auf die erste Stufe den rechten Fuß. Das ist wichtig. So anfangen.
Fünf Jahre sind es nun her, dass ich einmal – und zum letztenmal – mit dem linken Fuß begann. Aus Unachtsamkeit. So unachtsam war ich, dass ich nicht umkehrte. Mit dem linken Fuß begann ich und ging weiter. Ging weiter bis in den Park, den erprobten Weg, um den Teich, den Rasen, die Allee entlang. Am Abend desselben Tages fuhr der Blitz in die Eiche am Rhododendron und erschlug, wo ich gegangen war, einen Mann.
Auf die erste Stufe den rechten Fuß.
Das Licht nicht einschalten. Die Fenster zum Hof dürfen keinen Einblick gewähren. Das Haus bleibt dunkel. Nur so sind die winzigen Veränderungen der Geräusche beim Tritt auf die Stufen vernehmbar. Allein in der Finsternis sind die Unebenheiten zu spüren. Die Wahrnehmung ist geschärft.
Immer verändert sich etwas. Das Linoleum wirft Wellen auf, Holz dörrt und beginnt zu knarren, Wandfarbe platzt ab, Putz bröckelt, Kacheln lockern sich, oder – wie ich in einigen Fällen sicher weiß – sie werden gelockert.

Die Hand bleibt am Geländer. Die Verbindung muss gehalten werden. Aber nicht die Pfosten berühren; der siebente ist locker. Wer ihn streift, zieht Verletzung auf sich. Hier bin ich gestürzt vor vier Jahren im März. Als ich vom Einkaufen kam nachmittags, schwer bepackt. Ich streifte den Pfosten. Ich kannte nicht die Bedeutung. Ich schlug hin, stürzte die Stufen hinunter, blieb liegen auf dem Treppenabsatz. Im zweiten Stockwerk wurde die Tür geöffnet; der Lehrer sah heraus, erschrocken über den Lärm.
Seither gehe ich tagsüber nicht mehr aus. Seit ich mir den Kopf blutig schlug auf den Stufen, seit mir der Mantel zerriss am Messingbeschlag. Seither kauft der Lehrer ein für mich. An jedem Mittwoch, nachts auf meinem Weg, werfe ich ihm einen Zettel in den Briefkasten und ausreichend Geld. Und jeweils am folgenden Abend finde ich die Tüte mit Lebensmitteln, mit den notwendigen Dingen, vor meiner Tür. Ich sehe den Lehrer nicht mehr. Habe ihn nicht gesehen, seit er mir damals den Mantel abbürstete. Seit er mir aufhalf, mich stützte, seit er die verstreuten Vorräte aufsammelte und an meine Tür trug. Ein grauer Mann, unrasiert damals, allein. Ich sehe ihn nicht mehr. Aber ich schütze ihn, nachts im Treppenhaus, bei meinem Gang, der den Tag entscheidet. 7:00
Der Lehrer kann mir nicht mehr begegnen. Niemand kann mir begegnen im Treppenhaus, niemand die Tür öffnen, niemand mich sehen. Denn ich habe die kupfernen Münzen, ich ziehe den Bannkreis. Treppab lege ich sie unter die Matten. Treppauf sammele ich sie wieder ein. Meine Münzen kann niemand überschreiten. Kein Wort, kein Gedanke kann aus den Wohnungen durch die Türen dringen. Nicht über die Münzen. Nicht zu mir.
In der Wohnung unter der meinen, aus der ich nie etwas höre, in der Wohnung gegenüber dem Lehrer, bin ich früher einmal gewesen. Ich habe dort Stiche gesehen von fremden Städten und Wahrzeichen, Bilder einer fernen Kindheit, ich bin auf Teppichen gegangen und habe in Möbeln gesessen, die – wie die bucklige Frau mir zuflüsterte – gerettet worden waren. Sie gab mir einen Brief, den sie nicht lesen konnte, und zeigte mir andere. Briefe vom ausgewanderten Sohn, vom einzigen Sohn, der nur noch englisch schreiben konnte oder wollte. Ich musste übersetzen. Ich log.
Das ist lange vorbei. Später stand sie noch einmal in der Tür; sie hatte mich vom Fenster aus kommen sehen – an einem der letzten Tage, an denen ich nachmittags ausging. Sie stand in der Tür, als ich die Treppe heraufkaum, und hielt einen Brief in der Hand. Aber ich hatte damals schon begonnen, mich zu konzentrieren. Ich hatte begonnen, Worte und Gesten abzuwehren; ich ließ nichts mehr ein. Sie sagte auch nichts. Sie streckte nur den Arm aus und hielt mir den Brief hin. Ich schüttelte den Kopf, ging vorüber.

Von hier aus die zweite Stufe nach unten lasse ich aus. Vor wenigen Wochen habe ich eine leise Veränderung des Klanges bemerkt. Ich habe sofort reagiert. Inzwischen ist die Stufe laut. Sie würde schreien unter meinem Fuß. Ich betrete sie nicht. Ich weiß, dass die anderen es tun, tagsüber, bedenkenlos. Sie laden alles auf sich, Krankheit, Unheil, zerstörende Kräfte. Und wissen nicht, wie sie es tun. Wer es weiß und trotzdem falsch handelt, den trifft alles Unglück mit doppelter Härte. Ich lasse die Stufe aus und pausiere auf der folgenden mit beiden Füßen. Dann setze ich den Weg fort im vorgeschriebenen Rhythmus.
Im ersten Stockwerk der Geruch aus der Wohnung des Trinkers. Mit ihm habe ich nie geredet. Als ich noch tagsüber ausging, stand er manchmal in der Tür und starrte mich an. Die Augen gerötet, die Haut fleckig, das Gesicht verquollen. Er öffnete den Mund halb oder ließ den Unterkiefer herabhängen; er sagte nichts. Er starrte mich an, ich grüßte im Vorübergehen, er antwortete nicht. Ein saurer Dunst drang aus der Wohnung, und Zigarrenrauch. Erst wenn ich oben mit dem Schlüssel hantierte, hörte ich, wie er unten die Tür schloss.
Seine Frau hat mich mehrmals im Treppenhaus angehalten, in den Jahren. Sie wartete bei den Briefkästen oder goß die Topfblumen am Fenster im Zwischenstock. Sie redete, ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelte hervor, als könne sie die Worte nicht halten, zählte Namen auf, bezichtigte Nachbarn, zeigte Verletzungen immer trug sie irgendwo einen Verband , zog plötzlich ein Päckchen aus der Tasche, Pastillen oder Tabletten, schluckte eine, manchmal gleich mehrere, drehte sich unvermittelt weg, goß wieder Blumen, holte die Post aus dem Briefkasten.
Post bekomme ich schon lange nicht mehr. Der Lehrer verwaltet den Schlüssel. Es gibt nichts Wichtiges. Eine Weile noch bezog ich die Zeitung. Aber nur um die Verbindung zu überprüfen zwischen dem Treppenhaus und der Welt. Und nur solange, bis ich mir über die Ursachen hier und die Wirkungen draußen im klaren war. Bis ich zweifelsfrei Bescheid wusste über das Unheil, das der Nichtwissende verschuldet und das den Wissenden zwiefach trifft, wenn er es nicht verhindert. Als ein Wissender gehe ich durch das Treppenhaus, mit der Last des Bewusstseins bei jedem Schritt. Ich trage ab. Es ist eine schwindende Last.
[…]